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Zurich Center for Integrative Human Physiology (ZIHP)

Werden ethische und wissenschaftliche Standards in Krisenzeiten über Bord geworfen?

Die Zeit drängt und das Virus wartet nicht. Ist es da nicht Zeit für Kompromisse? Dr. med. Peter Kleist erläutert, wie die Kantonale Ethikkommission mit der gegenwärtigen Situation umgeht, wenn sie Gesuche für Forschungsprojekte beurteilen muss.

 

Ein Gastbeitrag von Peter Kleist

 

Portrait Kleist
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Dr. med. Peter Kleist, Facharzt für Pharmazeutische Medizin und Master in angewandter Ethik, ist seit Ende 2015 Geschäftsführer der Kantonalen Ethikkommission (KEK) Zürich.

 

Auch die Kantonale Ethikkommission Zürich, die «KEK», hat sich von «Normalität» verabschiedet: Alle Mitarbeitenden der Geschäftsstelle arbeiten seit Wochen im Homeoffice und Gesuche werden statt in Sitzungen auf dem Schriftweg beurteilt. Wir erhalten so viele Gesuche wie noch nie. Im März und April betraf ein Drittel davon Fragestellungen zur COVID-19-Pandemie. Aufgrund der Dringlichkeit der COVID-19-Forschung beurteilt die KEK diese Projekte zwar prioritär, d.h. innerhalb von 3 bis 7 Tagen, doch wir haben den Anspruch, allen Gesuchstellern innerhalb der gesetzlich vorgegeben Fristen einen Erstentscheid zukommen zu lassen.

 

Schwierige Rahmenbedingungen, mehr Gesuche und dann auch noch Zeitdruck: Schaut die KEK nicht mehr so genau hin? Werden Abstriche an den ethischen und wissenschaftlichen Anforderungen gemacht, um COVID-19-Forschung nicht zu behindern? Das sind durchaus berechtigte Fragen!

 

Grosses Engagement ist gefordert
Ich kann versichern, dass wir so genau wie immer arbeiten, auch wenn wir schneller begutachten müssen. Das ist nur dank des enormen Engagements unserer Mitarbeitenden und Kommissionsmitglieder möglich, insbesondere unserer beiden Präsidenten und der pensionierten Mitglieder in der Kommission. Erstentscheid heisst ausserdem nicht Bewilligung: häufig müssen die Gesuchsteller noch wichtige Fragen klären oder Bedingungen erfüllen, bevor die KEK ihre Bewilligung erteilt. Begünstigend wirkt sich für uns aus, dass wir  weniger Zeit für externe Besprechungen, Sitzungen und Veranstaltungen aufwenden müssen.

 

Studienteilnehmende müssen auch in der Pandemie geschützt werden
Unser gesetzlicher Auftrag und somit unser oberstes Ziel bleiben auch während der Pandemie unverändert, nämlich die Würde, Persönlichkeit und Gesundheit von Menschen in der Forschung zu schützen. Die Rechte und die Interessen der Studienteilnehmenden sind zu wahren, Risiken und Belastungen müssen vertretbar sein. In «Corona-Zeiten» darf zum Beispiel das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vernachlässigt werden, das heisst, Betroffene (bzw. deren Angehörige oder gesetzliche Vertreter) müssen weiterhin über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten bestimmen können. Die KEK achtet darauf, dass datenschutzrechtliche Bestimmungen und das Prinzip der informierten Einwilligung nicht ausgehebelt werden. Wenn immer möglich, sind die Daten für die Forschung zu anonymisieren.

 

Schnelle Forschung ist nicht besser
Auch darf es nicht darum gehen, möglichst schnell und so einfach wie möglich Ergebnisse in die Hand zu bekommen [1;2]. Vielmehr soll die Forschung wissenschaftliche Fragen in einer Eindeutigkeit beantworten, die es anschliessend erlaubt, Entscheidungen zu treffen und konkrete Massnahmen darauf abzustützen. Forschung, die sich nicht an strikte wissenschaftliche und methodische Standards hält, hinterlässt Interpretationsspielräume und Ungewissheit, die nicht weiterhelfen. Ohne Aussicht auf valide und zuverlässige Ergebnisse werden auch die ethischen Prinzipien der Nichtschädigung und der Gerechtigkeit verletzt, weil Risiken und Belastungen der Forschungsteilnehmenden und die eingesetzten Forschungsressourcen vergeblich wären.

 

Die Spielregeln bleiben in Krisenzeiten gleich
Die KEK agiert unbürokratisch und hält sich und die Forschenden nicht mit Formalien auf. Aber die Kriterien für wissenschaftliche Qualität, auf die sich die KEK bereits 2016 geeinigt hat, gelten uneingeschränkt weiter:

  1. Die Forschungsfrage muss klar und für das Verständnis und / oder das Management der Erkrankung bedeutend sein. Sie muss auf publizierte Evidenz und idealerweise auf formulierte Hypothesen basieren. Der gesellschaftliche und / oder der wissenschaftliche Wert der Forschung müssen so gross sein, dass Risiken und Belastungen für die Forschungsteilnehmenden vertretbar sind.
  2. Die Auswahl von Forschungsteilnehmenden muss repräsentativ für eine grössere Anzahl von Menschen sein. Selektive Stichproben verzerren das Studienergebnis.
  3. Die Methodik muss robust sein und der Beantwortung der Forschungsfrage dienen. Wenn immer möglich sollen prospektive Studien randomisiert und mit einer Kontrollgruppe durchgeführt werden [3].
  4. Die Anzahl der Teilnehmenden muss ausreichend hoch sein, damit statistisch abgesicherte Aussagen möglich sind. Das jüngste Beispiel für die Problematik ist die abgebrochene Studie aus Wuhan zum Arzneimittel Remdesivir: Ein Effekt von Remdesivir konnte weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden, weil nicht genug Teilnehmende in die Studie aufgenommen wurden [4].
  5. Das Projekt muss durchführbar sein. Zu beachten sind Logistik, Zugang zu Patienten, personelle Ressourcen und nicht zuletzt auch eine sich ändernde Pandemiesituation. Denn eine abnehmende Neuinfektionsrate oder Quarantänebestimmungen können die Durchführung einer geplanten Studie verunmöglichen.

 

Zusammenarbeit statt Konkurrenz
Schliesslich begrüsst die KEK multizentrische Studien mit einer ausreichenden Patientenzahl an Stelle von mehreren kleinen Studien mit wenigen Patienten. So laufen aktuell fast 20 Studien gleichzeitig in Nordamerika mit insgesamt mehr als 75000 COVID-19-Patienten, die alle den Effekt von Hydroxychloroquine untersuchen [2]. Diese Studien nehmen sich gegenseitig geeignete Patienten weg, vergeuden begrenzte Ressourcen und sollten kein Vorbild für die Schweiz sein. Da das Grundrecht der Forschungsfreiheit gilt, kann die KEK jedoch nur Empfehlungen aussprechen und um Zusammenarbeit und gemeinsame Nutzung bereits verfügbarer Daten, sogenanntes Data Sharing, werben.

 

[1] Rome BN, Avorn J. Drug evaluation during the COVID-19 pandemic. NEJM, published online 14 April 2020.

[2] London AJ, Kimmelman J. Against pandemic research exceptionalism. Science (2020), 368 (6490), 476-7, published online 23 April 2020.

[3] Bauchner H, Pondanarosa PB. Randomized clinical trials and COVID-19. Managing expectations. JAMA (2020), published online 09 May 2020.

[4] Norrie JD. Remdesivir for COVID-19: challenges of underpowered studies. Lancet (2020), 395 (10236): 1525-1527, published online 29 April 2020.

 

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